29

 

Es war völlig dunkel geworden, als Niko und Renata an dem Ort ankamen, dessen Koordinaten Gideon ihnen für Edgar Fabiens Grundstück im Norden angegeben hatte. Der Leiter des Dunklen Hafens besaß offenbar ein äußerst weitläufiges Stück Waldland; so weit von Montreal entfernt im Hinterland, dass der Großteil des umgebenden Geländes noch unerschlossen war: Hektar um Hektar riesiger, immergrüner Nadelbäume, weit und breit kein Lebewesen außer gelegentlich einem Reh oder Elch, die bei der ersten Witterung des schwer bewaffneten Vampirs, der sich durch ihr unberührtes Revier schlich, durchs Unterholz flohen.

Nikolai war die letzten paar Minuten als Ein-Mann-Spähtrupp durch das Gebiet unterwegs. Ein einstöckiges Haus aus Holz und Stein stand verborgen an einer Stelle, wo der Wald am dichtesten war. Ein schmaler, ungeteerter Zufahrtsweg, kaum breit genug für ein einziges Fahrzeug, schnitt einen gewundenen Pfad durch die Bäume bis vors Haus. Niko schlich im Schutz der Wälder um diese Zufahrt herum und bemerkte etwa auf halber Strecke zwei Agenten in der Montur eines Spezialeinsatzkommandos und zwei weitere bei den drei riesigen schwarzen Geländefahrzeugen, die hintereinander vor der Eingangstür geparkt waren. Drei weitere Vampire mit gezückten M16-Maschinengewehren sicherten den Eingang. Ost- und Westseite wurden ebenfalls durch je einen bewaffneten Posten bewacht.

Obwohl er nicht dachte, dass sie den rückwärtigen Teil des Anwesens unbewacht lassen würden, schlich Niko ums Haus herum nach hinten, um sich mit dem Terrain vertraut zu machen. Er hörte das leise Plätschern von Wasser, noch bevor er den stillen See und den verwaisten Anlegesteg am Ufer sah, knappe dreihundert Meter hinter dem Haus. Dort hinten waren zwei weitere Agenten postiert. Verdammt.

Es würde nicht einfach werden, sich hier einzuschleichen, um Fabien zu schnappen. Solange er und der Orden nicht aus der Luft angriffen, um Dragos' Verbündeten hier herauszuholen, würden sie bei dieser Aktion einige Agenten niedermähen müssen. Und dabei war die unbekannte Gruppe von Stammesvampiren noch gar nicht eingerechnet, die den Leiter des Dunklen Hafens von Montreal letzte Nacht herbegleitet hatten. Fabien heute Nacht hier herauszuholen, ohne dass es eine Menge toter Zivilisten gab, grenzte ans Unmögliche. Und die Anzahl würde sich noch verdoppeln, wenn man dazu noch Mira retten wollte. Also, im Prinzip lief sein Aufklärungstrip darauf hinaus, dass die Kacke hier schon recht bald am Dampfen sein würde, anders war es nicht zu machen.

Und dann war da noch das Problem mit Renata.

Noch nie war Nikolai etwas so schwergefallen, wie heute den ganzen Tag mit ihr zu verbringen, in dem Wissen, dass er sie hintergangen hatte. Er hatte es ihr sagen wollen - nachdem sie sich geliebt hatten, nachdem sie ihn mit dem Geschenk ihres Blutes geehrt und mit ihm den Bund vervollständigt hatte, der sie beide nun in alle Ewigkeit vereinte. Dutzende von Malen hatte er es ihr sagen wollen, in einem Dutzend verschiedener Augenblicke, aber egoistisch wie er war, hatte er ihr die Wahrheit zu ihrem eigenen Schutz verschwiegen.

Immer noch hing seine Hoffnung daran, dass sie seine Schutzmaßnahme verstehen würde - dass sie ihm vielleicht sogar dankbar sein würde, ihr Miras Aufenthaltsort verschwiegen zu haben, bis er und die anderen Krieger die Chance hatten, eine solide Evakuierungsstrategie zu entwickeln.

Ja, all das sagte er sich schon die ganze Zeit, weil er lieber nicht über die Alternativen nachdenken wollte.

Nikolai schüttelte das schlechte Gewissen ab, das ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, und das Grauen, das in ihm aufzusteigen drohte, und schlich im Schutz der Wälder zu einem besseren Aussichtsposten. Er spähte durch die dichten Kiefernzweige und erblickte etliche Besucher, als sie an einem Erdgeschossfenster vorbeigingen. Er zählte die mit Kapuzen vermummten Stammesvampire schnell durch, als die Gruppe auf einen anderen Teil des Hauses zuging.

Fünf, sechs, sieben ... und dann noch einer, dieser ohne die schwarze Vermummung.

 Oh, verdammt.

Nikolai kannte ihn. Diesen Dreckskerl hatte er erst vor wenigen Wochen aus der Nähe gesehen, als er sich im Rahmen einer Ordensmission mit einem der höchstrangigen Beamten der Agentur getroffen hatte. Damals lebte der Mann schon lange unter einem Decknamen - eine von zwei falschen Identitäten, die der Orden schon wenig später enttarnt hatte. Nun kannten sie den Mistkerl bei seinem wahren Namen, den auch sein Gen Eins-Vater, der Verräter, vor ihm getragen hatte.

 Dragos.

 Verdammte ... Scheiße.

Seit Wochen suchte der Orden verzweifelt nach der kleinsten Spur von Dragos, bislang ohne Erfolg. Und hier war er nun, saß ihnen direkt vor der Nase. Der Dreckskerl war hier. Und verdammt, er würde dran glauben - noch heute Nacht.

Niko schlich sich wieder ins Dickicht und rannte so schnell er konnte in südliche Richtung, wo er Renata mit dem entwendeten Agentur-Geländewagen zurückgelassen hatte. Er konnte kaum erwarten, Tegan und Rio anzurufen und ihnen diese guten Neuigkeiten zu erzählen.

 

Edgar Fabiens Bestürzung und Beschämung über das Debakel seines misslungenen Geschenks für Dragos verfolgte ihn wie ein Gespenst, als er und die anderen hinter ihrem neu angekommenen Anführer in den Konferenzraum des Anwesens im Norden von Montreal traten. Fabien wusste, dass es gefährlich war, Dragos zu verstimmen - im Allgemeinen tödlich -, und bis vor Kurzem hatte er es tunlichst vermieden. Aber er wusste auch - und nahm an, dass es auch die anderen Stammesvampire wussten, die sich hier zu diesem Treffen versammelt hatten -, dass Dragos sie heute Nacht aus einem bestimmten Grund zusammengerufen hatte. Die heutige Nacht würde in die Geschichte eingehen. Für ihre jahrelange geheime Partnerschaft und ihre Loyalität gegenüber dem gemeinsamen Ziel hatte Dragos ihnen eine Belohnung versprochen.

Nachdem er in diesen letzten Jahrzehnten so viel Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, sich in Dragos' Gunst einzuschmeicheln, konnte Fabien nur beten, dass er sie in diesem einen unglücklichen Augenblick unten am Anlegesteg nicht verspielt hatte.

„Setzt euch", wies Dragos sie an, als sie einer nach dem anderen eintraten, und nahm seinen Platz an der Stirnwand des Konferenzzimmers ein. Er sah zu, wie Fabien und die sechs anderen, die Gesichter noch unter den schwarzen Kapuzen verborgen, auf den Stühlen Platz nahmen, die um den Block aus poliertem Granit herumstanden, der als Konferenztisch diente. „Jeder von uns, die wir hier in diesem Raum versammelt sind, teilt ein gemeinsames Interesse - der derzeitige und zukünftige Zustand unserer Rasse."

Fabien nickte zustimmend unter seiner Kapuze, wie auch einige andere am Tisch.

„Uns vereint die Abscheu vor der Verwässerung unserer Rasse durch den Makel der Menschlichkeit und vor der Feigheit unserer regierenden Stammesmächtigen gegenüber der minderwertigen Menschheit. Seit die ersten Samen der Rasse auf diesem Planeten ausgesät wurden, degeneriert unser Vampirvolk immer weiter zu einer einzigen Schande. Mit jeder neuen Generation, die geboren wird, vermischt sich unser Blut weiter mit dem der Menschheit. Unsere Anführer schreiben uns vor, uns vor der Welt des Homo sapiens  verborgen zu halten. Allesamt fürchten sie sich vor Entdeckung und maskieren ihre Feigheit mit Gesetzesparagrafen, die angeblich dazu dienen, das Geheimnis unserer Existenz zu wahren. Angst und Heimlichkeit haben uns geschwächt. Es ist allerhöchste Zeit, dass sich das ändert, und dafür ist eine neue, mächtige Führung vonnöten."

Das Nicken der anderen wurde heftiger, die gemurmelte Zustimmung eifriger.

Dragos begann, lässig an der Stirnseite des Raumes auf und ab zu gehen, die Hände locker hinter dem Rücken verschränkt. „Nicht jeder teilt unseren Wunsch, die Versäumnisse der Vergangenheit rückgängig zu machen und den Stamm wieder zu seiner alten Macht zurückzuführen. Nicht jeder sieht für den Stamm dieselbe Zukunft wie wir. Einige würden wohl sagen, der Preis ist zu hoch, das Risiko zu groß. Es gibt unzählige fälsche Begründungen dafür, warum der Stamm in seinem derzeitigen untätigen Zustand verharren sollte, statt die kühnen Maßnahmen zu ergreifen, die nötig sind, um uns die Zukunft zu sichern, zu der wir berechtigt sind."

„Bravo! Richtig!", warf Fabien ein, die Gier nach dieser Zukunft fraß an ihm wie eine Flamme.

„Es freut mich, dass die Anwesenden in diesem Raum sich über die absolute Notwendigkeit dieser kühnen Maßnahmen im Klaren sind", sagte Dragos. „Jeder Einzelne von euch hat eine Rolle dabei gespielt, unsere Vision auf ihre nächsthöhere Stufe zu bringen. Und ihr alle habt es getan, ohne Fragen zu stellen, ohne voneinander zu wissen .. bis jetzt. Unsere Zeit der Heimlichkeit ist vorüber. Bitte", sagte er, „nehmt eure Kapuzen ab und lassen wir unser Bündnis so in eine neue Phase treten."

Fabien griff nach dem schwarzen Stoff, der seinen Kopf umhüllte, Unsicherheit ließ seine Finger zögern. Er wartete, bis ein paar der anderen Anwesenden sich ihrer Kapuzen entledigt hatten, bevor er den Mut fand, seine eigene abzunehmen.

Einen Augenblick lang sagte keiner der Stammesvampire ein Wort. Blicke wurden über den Tisch ausgetauscht, einige selbstgefällig, weil sie Bekannte entdeckt hatten, andere wachsam angesichts der Fremden, die nun, mit diesem offenen Eingeständnis ihres Hochverrats, ihre engsten Verbündeten geworden waren. Fabien kannte einige des halben Dutzends von Gesichtern, die zu ihm zurückstanden - allesamt hochrangige Funktionäre der Dunklen Häfen und der Agentur, einige aus den Vereinigten Staaten, andere aus dem Ausland.

„Wir sind ein Rat von acht", verkündete Dragos. „Genau wie die Ältesten, die vor so langer Zeit hier ankamen. Wir alle sind ausnahmslos Söhne der Zweiten Generation dieser mächtigen Außerirdischen. Schon bald, sobald auch der letzte Gen Eins-Vampir eliminiert ist, werden wir unter den Ältesten und Mächtigsten unserer Rasse sein. Jeder Einzelne von euch war mir bei diesem Unterfangen behilflich, entweder, indem er den Aufenthaltsort der letzten überlebenden Mitglieder unserer Ersten Generation für mich in Erfahrung brachte, oder indem er unserer Sache Stammesgefährtinnen zur Verfügung stellte, um den Samen unserer Revolution auszutragen."

„Was ist mit dem Orden?", fragte einer der europäischen Anwesenden, sein deutscher Akzent war scharf wie eine Rasierklinge. „Dort gibt es zwei Gen Eins-Krieger, um die wir uns noch kümmern müssen."

„Und das werden wir auch", sagte Dragos ruhig. „Schon sehr bald werde ich direkte Angriffe auf den Orden veranlassen. Nach ihrem neuerlichen Angriff auf mich wird es mir ein persönliches Vergnügen sein, den Orden für immer auszuschalten und die Krieger und ihre Gefährtinnen zu eliminieren."

Ein Agenturdirektor von der Westküste der Vereinigten Staaten lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob seine dunklen Augenbrauen. „Lucan und seine Krieger haben schon andere Angriffe überlebt. Der Orden existiert bereits seit dem Mittelalter. Sie werden nicht ohne Gegenwehr abtreten - nicht ohne einen harten, blutigen Kampf."

Dragos lachte leise. „Oh, sie werden bluten. Und wenn alles so läuft wie von mir geplant, werden sie um Gnade betteln und keine bekommen. Nicht von der mächtigen Armee, die unter meinem Befehl bereitsteht."

„Wann werden wir anfangen, diese Armee aufzubauen?", fragte ein anderer aus der Runde.

Dragos' Lächeln wurde breit vor Bösartigkeit. „Wir haben bereits vor fünfzig Jahren damit angefangen. Tatsächlich hat diese Revolution sogar schon vor längerer Zeit begonnen.

Viel längerer Zeit."

 

Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er zu einem Laptop ging, den Fabien auf sein Geheiß hin im Konferenzraum bereitgestellt hatte. Er gab einen Befehl in die Tastatur ein, und aus dem Fußboden glitt der riesige Flachbildschirm des Konferenzraumes nach oben. Dragos gab weitere Befehle ein, und der dunkle Monitor wurde hell.

Was er zeigte, war offenbar ein Forschungslabor.

„Eine Satellitenverbindung zu einem meiner Stützpunkte", erklärte er und benutzte den Touchpad, um die Kamera am anderen Ende der Verbindung fernzusteuern. „Das ist der Ort, von dem unsere Revolution ausgeht."

Die Kamera bewegte sich auf eine Wand von elektronisch versiegelten Tiefkühltrommeln zu, dann vorbei an Unmengen von Mikroskopen, Computern und Glasbehältern zur Aufbewahrung von DNA, säuberlich auf Tischen aufgereiht.

Inmitten all dieser wissenschaftlichen Ausrüstung arbeiteten mehrere Lakaien in Masken und weißen Laborkitteln.

„Sieht aus wie ein Genlabor", sagte der Deutsche, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen.

„So ist es", erwiderte Dragos.

„Was für Experimente lassen Sie dort durchführen?"

„Alle möglichen." Dragos ging zur Tastatur zurück und gab wieder eine Reihe von Befehlen ein. Die Kamera des Laboratoriums wurde schwarz, nur um einer anderen Ansicht zu weichen, dem Panorama eines langen Korridors, von dem Gefängniszellen abgingen. Obwohl es von der Kameraposition aus schwer war, mehr als nur die elementarsten Formen auszumachen, war zu erkennen, dass in den Zellen Frauen waren, einige von ihnen in fortgeschrittenen Stadien der Schwangerschaft.

„Stammesgefährtinnen", schnaufte Fabien. „Das müssen über zwanzig von ihnen da drin sein oder noch mehr."

„Sie überleben nicht immer die Besamungsprozedur und die Tests, somit gibt es im Allgemeinen eine natürliche Schwankung der Zahlen", sagte Dragos im Plauderton. „Aber wir hatten beim Zuchtprozess durchaus unsere Erfolge zu verzeichnen. Diese Frauen und ihre Vorgängerinnen gebären die größte Armee, die die Welt je kennen wird. Eine Armee von Gen Eins-Killern, die unter meinem persönlichen Befehl steht."

Ein Schweigen so schwer wie ein Wintermantel senkte sich über die Versammlung.

„Gen Eins?", fragte der Direktor von der Westküste. „Aber das ist unmöglich. Um einen Vampir der Ersten Generation zu züchten, würden Sie einen der Ältesten brauchen. Alle diese Außerirdischen wurden vor über siebenhundert Jahren vom Orden ausgerottet. Lucan hat den Ältesten persönlich den Krieg erklärt und dafür gesorgt, dass keiner überlebte."

„Hat er das?", grinste Dragos und entblößte die Spitzen seiner Fangzähne. „Ich denke ... nicht."

Wieder tippte er etwas auf der Tastatur, und über die Satellitenverbindung erschien eine weitere Ansicht. Die Kamera zoomte auf einen riesigen, speziell gesicherten Raum, in dessen Mitte sich eine zylindrische, aus Lichtstrahlen erbaute Zelle befand. Die ultraviolette Strahlung, die von diesem Käfig aus eng stehenden vertikalen Lichtsäulen ausging, war fast blendend hell, sogar auf dem Bildschirm.

Und gefangen in dieser UV-Licht-Zelle kauerte eine haarlose Kreatur, über zwei Meter groß, ihr nackter Körper war gewaltig und vollkommen von Dermaglyphen  bedeckt.

Sie sah auf, als die Kameralinse irgendwo am anderen Ende des Raumes auf sie zoomte. Bernsteingelbe Augen, die Pupillen fast vollständig von dem Feuer verschlungen, das aus ihren Augenhöhlen sprühte, verengten sich in tödlichem Begreifen. Die Kreatur erhob sich aus ihrer kauernden Haltung und machte einen wütenden Satz, nur um von der sengenden Hitze der UV-Stangen abzuprallen, die sie gefangen hielten. Sie öffnete den Mund und stieß ein wütendes Brüllen aus, das man nicht hören musste, um es zu verstehen.

„Mein Gott", keuchte mehr als nur einer der Anwesenden.

Dragos sah sich um, und der Blick, mit dem er die Versammelten musterte, war von einer tödlichen Gelassenheit. „Meine Herren, darf ich vorstellen ... unsere Revolution."

 

Lex' Handy auf dem Armaturenbrett des Geländewagens vibrierte. Renata nahm es und warf einen Blick auf das digitale Display: Anrufer unbekannt.  Scheiße.

Sie konnte nicht sicher sein, ob der Anruf für Lex oder für Nikolai war, der ja mehrmals über dieses Handy mit dem Orden kommuniziert hatte. Sie wusste nicht, wie lange Nikolai auf seinem Aufklärungstrip sein würde, und das untätige Herumsitzen und Warten machten sie fast wahnsinnig. Sie musste einfach irgendetwas tun. Zumindest das Gefühl haben, dass sie auf dem besten Wege waren, Mira bald zu finden ...

Das Handy in ihrer Hand wollte nicht aufhören zu summen. Sie drückte den grünen Knopf, sagte aber nichts.

Sie nahm nur den Anruf an und wartete ab, dass der Anrufer sich zuerst zu erkennen gab.

„Hallo? Niko - bist du da, Amigo?"  Die tiefe Stimme hatte einen rollenden spanischen Akzent, warm und weich wie Karamell. „Ich bin's, Rio, alter Junge ..."

„Er ist nicht da", sagte Renata. „Wir sind auf dem Posten auf dem Gelände im Norden der Stadt und warten auf euch Jungs. Niko ist auf einem Erkundungstrip. Sollte bald zurück sein."

„Gut", sagte der Krieger.„Wir sind fast da. Voraussichtliche Ankunftszeit in zirka fünfundvierzig Minuten. Du musst Renata sein."

»Ja."

„Muss dir danken, dass du unserem Jungen da oben den Arsch gerettet hast. Was du getan hast, war ... also, er hat echt Glück, dass du auf seiner Seite bist. Haben wir alle." In der Stimme des Vampirs lagen echte Besorgnis und Dankbarkeit, und Renata merkte, dass sie wirklich neugierig auf die anderen Krieger war, die Niko seine Freunde nannte.

„Alles im grünen Bereich bei dir? Wie geht's dir da drüben?

Kommst du klar?"

„Alles okay. Ich kann's nur kaum erwarten, das alles heute Nacht über die Bühne zu bringen."

„Ist uns klar", erwiderte Rio. „Niko hat uns von dem kleinen Mädchen erzählt - Mira. Tut mir leid, was du durchgemacht hast. Zu wissen, dass so ein krankes Schwein wie Fabien sie gefangen hält. Ich weiß, es kann nicht leicht für dich gewesen sein, den ganzen Tag auf uns zu warten."

„Nein, das war's auch nicht. Ich fühle mich einfach so hilflos", gestand sie. „Ich hasse das Gefühl."

„Tut mir leid. Wir werden nicht zulassen, dass ihr was passiert, wenn wir heute Nacht da reingehen, Renata. Ich bin mir sicher, dass Nikolai dir erklärt hat, dass es für den Orden von höchster Bedeutung ist, Edgar Fabien in die Hand zu bekommen, aber wir werden unser Bestes tun, dass dieses Kind heil da rauskommt ..."

Ein plötzliches Frösteln fuhr durch ihren Brustkorb, als sie die Bedeutung von Rios Worten erfasste. „Was hast du eben gesagt?"

„Ihr wird nichts passieren."

„Nein ... dass ihr heute Nacht alles tun werdet, dass sie heil da rauskommt..."

Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Stille.

 „Ah, Cristo.  Niko hat dir nichts von dem Überwachungsvideo von gestern Abend erzählt, aus Fabiens Dunklem Hafen?"

Das Kältegefühl in ihr wurde stärker, Eis breitete sich in ihrem Brustkorb und all ihren Gliedern aus. „Ein Überwachungsvideo ... von gestern Abend ...", erwiderte sie benommen. „Was war drauf? Habt ihr Mira gesehen? Oh Gott. Hat Fabien ihr etwas getan? Sag es mir."

 „Madre de Dios",  sagte er und stieß einen langen Seufzer aus. „Wenn Niko dir nicht ... ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte ..."

„Sag's mir, gottverdammt noch mal!"

Im Hintergrund hörte sie einen raschen Wortwechsel von tiefen Männerstimmen, dann gab Rio endlich nach. „Das Kind ist bei Fabien und einigen anderen, die wir noch nicht identifizieren konnten. Wir wissen das aus einem Überwachungsvideo aus Fabiens Dunklem Hafen. Sie sind gestern Abend von dort aufgebrochen, und wir haben sie verfolgt bis zu dem Grundstück, auf dem ihr jetzt seid."

„Gestern Abend schon", murmelte Renata. „Fabien hält Mira hier gefangen ... schon seit gestern Abend.  Und was ist mit Nikolai ... willst du mir etwa sagen, dass er es gewusst hat? Wann hat er es erfahren? Wann?!"

„Ich muss dich bitten, noch einen Moment zu warten", sagte Rio. „Es wird schon alles gut gehen ..."

Renata wusste, dass der Krieger weitersprach, sie zu beschwichtigen versuchte, aber seine Stimme verblasste aus ihrem Bewusstsein, als bodenlose Wut und Angst - ein Schmerz, so tief, dass sie dachte, er würde sie in Fetzen reißen - sie überfluteten. Sie klappte das Handy zu und beendete so den Anruf. Dann warf sie das Handy vor sich zu Boden.

Mira war schon seit gestern Abend hier. Mit Fabien.

Schon die ganze Zeit.

 Und Nikolai hatte es gewusst.

Er hatte es gewusst und ihr verheimlicht. Sie hätte schon vor Stunden dort sein können - bei Tageslicht - und etwas tun können, irgendwas, um Mira zu retten. Stattdessen hatte Nikolai die Wahrheit absichtlich vor ihr verheimlicht, und daher hatte sie gar nichts getan.

Nicht absolut nichts, gab sie zu, untröstlich vor Schuldgefühlen beim Gedanken an die Lust, die sie mit ihm erlebt hatte, während Mira nur etwa eine Stunde von ihr entfernt gewesen war.

„Oh Gott", flüsterte sie und fühlte sich sterbenselend.

Sie war sich vage bewusst, dass sich Schritte dem Fahrzeug näherten; ihre Sinne reagierten, noch bevor ihr Verstand das Geräusch verarbeiten konnte. Die Blutsverbindung, die sie nun mit Nikolai hatte, sagte ihr, dass er es war, lange bevor seine dunkle Gestalt am Fenster auftauchte. Er öffnete die Tür des Geländewagens und kletterte hinein, als wäre ihm die Hölle auf den Fersen.

„Es ist Dragos", sagte er und suchte auf Armaturenbrett und Sitz nach dem Handy. „Scheiße, ich glaub's einfach nicht, aber er ist es wirklich. Ich hab den Dreckskerl eben im Haus gesehen, mit Fabien und den anderen. Dragos ist hier - direkt vor unserer Nase. Wo zum Teufel ist bloß dieses Handy?"

Renata starrte ihn an, als er sich vorbeugte und nach dem Handy zu ihren Füßen auf dem Wagenboden griff, und sah einen Fremden. Sie hörte kaum, was er sagte. Und es war ihr auch egal.

„Du hast mich angelogen."

Er tauchte wieder auf, Lex' Handy in der Faust. Die Funken, die der Adrenalinstoß in seinen Augen zum Leuchten gebracht hatte, verblassten etwas, als er sie ansah.

„Was?"

„Ich hab dir vertraut. Du hast mir gesagt, ich könnte dir vertrauen - mich auf dich verlassen -, und das habe ich getan. Ich habe dir geglaubt, und du hast mich verraten." Sie schluckte an dem schrecklichen Kloß in ihrer Kehle und zwang sich, die Worte hervorzustoßen. „Mira ist hier. Sie ist schon seit gestern Abend mit Fabien hier. Du hast es gewusst ... und du hast es mir verheimlicht."

Er wurde still, machte aber keinen Versuch, es abzustreiten. Er sah auf das Handy in seiner Hand, als erkenne er erst jetzt, wie seine Täuschung aufgeflogen war.

„Ich hätte hier sein können, Nikolai. Vor Stunden hätte ich schon hier sein und etwas tun, können um Mira aus den Klauen dieses Monsters zu retten!"

„Was genau der Grund ist, warum ich es dir nicht gesagt habe", sagte er sanft.

Sie schnaubte höhnisch, untröstlich. „Du hast mich hintergangen."

„Ich hab es getan, um dich zu schützen. Weil ich dich liebe . ."

„Nein", sagte sie und schüttelte den Kopf. Er würde sie nicht wieder zum Narren halten. „Nein. Sag das nicht zu mir.

Wie kannst du das sagen, wenn du dieselben Worte benutzt hast, um mich abzulenken - um mir vorzugaukeln, dass ich dir etwas bedeute, wo doch du und deine Kumpels schon alles geplant habt, ohne mich?"

„Aber so ist es doch gar nicht. Nichts, was heute zwischen uns passiert ist - nichts, was ich zu dir gesagt habe -, hatte irgendwas mit dem Orden zu tun. Heute ging es nur um dich und mich ... um uns."

„Blödsinn!" Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück, fort aus seiner Reichweite. Sie öffnete die Tür und stieg aus dem Geländewagen. Sofort war auch er aus dem Wagen und kam auf ihre Seite hinüber, verstellte ihr den Weg. Es ging so schnell, dass sie nicht einmal die Chance hatte, seinen Bewegungen mit den Augen zu folgen.

„Lass mich vorbei, Nikolai."

„Wohin willst du?", fragte er sanft.

„Ich kann nicht länger hier rumsitzen und nichts tun." Sie ging einen Schritt um ihn herum, aber schon war er wieder da.

Seine Sanftmut verging schnell und wich Unnachgiebigkeit. Sie spürte, dass, wenn er es für nötig hielt, er sie in Handschellen hierbehalten würde.

„Das kann ich nicht zulassen, Renata."

„Das ist nicht deine Entscheidung", feuerte sie zurück, zitternd vor Angst und Entrüstung. „Verdammt, das ist nie deine Entscheidung gewesen!"

Er knurrte einen Fluch und wollte sie anspringen.

Renata wusste kaum, was sie getan hatte, bis er mitten im Lauf erstarrte und sich mit den Händen an die Schläfen fasste.

Er zischte, seine Augen sprühten bernsteingelbe Funken, als er sie mit einem schockierten, wilden Blick festnagelte.

„Renata. Nicht..."

Wieder versetzte sie ihm einen mentalen Schlag. All ihre Angst um Mira und ihr Schmerz über seinen Verrat schossen in einem wütenden mentalen Hitzestrom aus ihr heraus. Nikolai ging in die Knie, stöhnte und zuckte unter den Schmerzen, die sie auf ihn losgelassen hatte.

Renata rannte fort von ihm, in den Wald hinein, bevor sie sich noch von der Reue übermannen ließ, die bereits in ihr aufwallte.

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